Was dem regelmäßigen Berliner Bus- und U-Bahn-Fahrer schier unglaublich erscheinen mag, hat des Landgericht Hamburg mit Urteil vom 09.11.2021, Az. 310 O 44/19 in der Sache des Designers Herbert Lindinger gegen die Berliner Verkehrsgesellschaft BVG offiziell bestätigt: mit dem Würmchenmuster- bzw. "Urban Jungle"-Design der Sitzbezüge der verschiedenen Verkehrsmittel der BVG handelt es sich um Kunstwerke i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG. Das Landgericht stellt dazu ausdrücklich fest, dass "Hässlichkeit" als bloße Geschmacksfrage kein Argument für oder gegen die Urheberrechtsfähigkeit einer Gestaltung sei:
"Die vom Kläger geltend gemachten Klagemuster sind als Werke der angewandten Kunst urheberrechtlich geschützt. …
a)
Eine persönliche geistige Schöpfung im Sinne von § 2 Abs. 2 UrhG ist eine Schöpfung individueller Prägung, deren ästhetischer Gehalt einen solchen Grad erreicht hat, dass nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise von einer "künstlerischen" Leistung gesprochen werden kann (BGH, Urt. v. 13..11.2013 – I ZR 143/12, GRUR 2014, 175 (176) Rn. 15 – Geburtstagszug; Urt. v. 12.05.2011 – I ZR 53/10, GRUR 2012, 58 (60) Rn. 17 – Seilzirkus).
Nach der Rechtsprechung des BGH ist bei der Beurteilung zu berücksichtigen, dass die ästhetische Wirkung der Gestaltung einen Urheberrechtsschutz nur begründen kann, soweit sie nicht dem Gebrauchszweck geschuldet ist, sondern auf einer künstlerischen Leistung beruht. Eine eigene geistige Schöpfung des Urhebers setzt voraus, dass ein Gestaltungsspielraum besteht und vom Urheber dafür genutzt wird, seinen schöpferischen Geist in origineller Weise zum Ausdruck zu bringen. Bei Gebrauchsgegenständen, die durch den Gebrauchszweck bedingte Gestaltungsmerkmale aufweisen müssen, ist der Spielraum für eine künstlerische Gestaltung regelmäßig eingeschränkt. Deshalb stellt sich bei ihnen in besonderem Maß die Frage, ob sie über ihre von der Funktion vorgegebene Form hinaus künstlerisch gestaltet sind und diese Gestaltung eine Gestaltungshöhe erreicht, die Urheberrechtsschutz rechtfertigt (BGH GRUR 2014, 175 (179) Rn. 41 – Geburtstagszug). Urheberrechtsschutz für einen Gebrauchsgegenstand kommt daher nur in Betracht, wenn seine Gestaltung nicht nur eine technische Lösung verkörpert, sondern einen durch eine künstlerische Leistung geschaffenen ästhetischen Gehalt aufweist. Maßgebend ist allein, ob der ästhetische Gehalt als solcher ausreicht, um von einer künstlerischen Leistung zu sprechen (BGH GRUR 2012, 58 (60) Rn. 22 – Seilzirkus).
Nach der Rechtsprechung des EuGH liegt erst bzw. bereits dann ein Werk vor, wenn der geschaffene Gegenstand die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt. Sofern die Schaffung eines Gegenstands durch technische Erwägungen, durch Regeln oder durch andere Zwänge bestimmt wurde, die der Ausübung künstlerischer Freiheit keinen Raum gelassen haben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Gegenstand die für die Einstufung als Werk erforderliche Originalität aufweist (EuGH, Urt. v. 12.09.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 (1186 f.) Rn. 30 f. – Cofemel/G-Star; vgl. auch EuGH, Urt. v. 11.06.2020 – C-833/18, GRUR 2020, 736 (737) Rn. 22 ff. – Brompton/Get2Get).
b)
Nach den vorstehenden Grundsätzen handelt es sich bei dem sog. Puzzlemuster um eine persönliche geistige Schöpfung gemäß §8 2 Abs. 2 UrhG. Der Gestaltungsspielraum des Klägers ist zwar eingeschränkt gewesen, weil das streitgegenständliche Muster auch einem Gebrauchszweck (Graffiti-Schutz) dient. Es ist aber ein ausreichender Gestaltungsspielraum für den Kläger verblieben, den dieser zur Überzeugung des Gerichts gemäß §$ 286 Abs. 1 ZPO bewusst nach seinen eigenen freien kreativen Entscheidungen ausgenutzt hat, um eine künstlerische Leistung zu erbringen, die seine Persönlichkeit widerspiegelt. Die Gestaltung weist über die technische Lösung hinaus einen ausreichenden ästhetischen Gehalt auf, um von einer künstlerischen Leistung zu sprechen.
(1)
Der Gestaltungsspielraum des Klägers war zwar eingeschränkt, weil er von seiner Auftraggeberin, der W.- U., bzw. der Beklagten, die mit der W.- U. vertraglich verbunden gewesen ist, den Auftrag hatte, ein Sitzmuster mit Graffiti-Schutz zu schaffen. Diesem Gebrauchszweck diente unstreitig die Schaffung des streitgegenständlichen Musters in seinen in den Klagemustern zum Ausdruck kommenden Formen und Farben (vgl. auch Anlage B 10, S. 1 f.). Es spielt insoweit keine Rolle, ob man -– wie der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung – von einem "zu berücksichtigenden Gesichtspunkt" oder – wie die Beklagte – von einer "Vorgabe" spricht.
Der Kläger hat aber insoweit auch dargelegt, dass es dafür, einen Graffiti-Schutz auf Sitzbezügen durch eine bestimmte Mustergestaltung zu realisieren, unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten gibt …
Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich derartige konkretisierte Vorgaben nicht bereits aus Natur und dem Inhalt des technischen Auftragsziels ergaben, eine Gestaltung mit Graffiti-Schutz zu erreichen. Soweit die Beklagte insofern geltend macht, die Farben und die Dicke des Musters ergäben sich aus der Art des Auftrags, dringt sie damit nicht durch. …
(2)
Die bestehenden verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten von sog. Anti-Graffiti-Sitzmustern belegen auch, dass der Kläger seinen eigenen freien kreativen Entscheidungen ausgenutzt hat, um eine künstlerische Leistung zu erbringen, die seine Persönlichkeit widerspiegelt. Den Klagemustern ist – ungeachtet ihrer auch technischen Funktion – eine (möglicherweise künstlerisch umstrittene) ästhetische Wirkung und damit eine künstlerische Leistung nicht abzusprechen. …
Die Kammer, deren Mitglieder zu den für Kunst empfänglichen und interessierten Kreisen gehören, kann diese Beschreibung nachvollziehen. Dass es für den Kläger nicht allein um eine x-beliebige, allein technisch motivierte Gestaltung ging, sondern um die ästhetische Eingliederung der Sitzbezüge in die Gesamtgestaltung des Fahrzeugs gehen sollte, liegt auf der Hand. Die Beschreibungen der Konzeption und Wirkung des Musters erscheinen als nachvollziehbar und sind Ausdruck einer künstlerischen Konzeption, die – ungeachtet ihres funktionalen Aspekts – jedenfalls auch und in erheblichem Maße auf eine ästhetische Wirkung zielen sollte.
Soweit die Beklagte dem entgegenhält, der Erschaffer des streitgegenständlichen Musters habe sich lediglich den von sog. Tarnmustern bekannten Effekt zu Eigen gemacht um ein "Anti-Graffiti-Muster" zu schaffen, so folgt die Kammer dem nicht. …
Soweit die Beklagte argumentieren lässt, die "Wuseligkeit" und Unruhe der Klagemuster sprächen das Auge gerade nicht an und hätten auch keinen künstlerischen Aussagegehalt, so dass das Muster in den Medien und der Öffentlichkeit sehr häufig als besonders hässlich bezeichnet und von Farbexperten kritisiert werde …, so steht dies – in tatsächlicher Hinsicht einmal als zutreffend unterstellt – der Annahme eines Urheberrechtsschutzes nicht entgegen; zu Recht hat der Kläger darauf hinweisen lassen, dass Hässlichkeit eine bloße Geschmacksfrage und daher kein Argument für oder gegen die Urheberrechtsfähigkeit ist. …
Im Übrigen spricht insbesondere auch die Rezeption des Musters für einen Werkschutz. Das Muster ist zeitlos und hält sich seit den 1990er Jahren als Sitzmuster im öffentlichen Nahverkehr. Die Stilkritik im Hinblick auf die "neuen" Verwendungsformen durch die Beklagte, u.a. für Merchandise-Artikel, reicht von "frech, selbstbewusst, B. like" bis hin zu "grausig". Bei künstlerischen Leistungen mit ästhetischem Gehalt ist es nicht selten, dass sie kontroverse Beurteilungen provozieren. So ist das Muster schon bei der Präsentation der S-Bahnwagen im Jahr 1989 kommentiert worden. Der urheberrechtliche Schutz ist jedoch nicht abhängig von einer (wie auch immer zu bestimmenden) "künstlerischen Qualität" der Arbeit. Der offenbar bestehende Streit über die Ästhetik der Klagemuster spricht aber indiziell für ihre ästhetische Wirkung und für eine künstlerische Leistung (welchen künstlerischen Wert auch immer man ihr zuerkennen mag), weil die Diskussionen um die Sitzbezugsmuster zeigen, dass diese von den Betrachtern eben nicht nur als funktional bedingt, sondern als mit ästhetischer Wirkung versehen und damit als künstlerisch gestaltet wahrgenommen werden.
(2)
Die Kammer ist davon überzeugt, dass dem Kläger seine vorstehend beschriebene künstlerische Gestaltung nicht konkret vorgegeben worden ist, sondern dass der Kläger einen ihm eröffneten Gestaltungsspielraum genutzt hat. …"
Indem die BVG dieses Sitzmuster weit über den damals vertraglich eingeräumten Nutzungszweck hinaus nutze, u.a. für Busse und U-Bahnen, eine Kollektion von Gebrauchsgegenständen und vielfältige Merchandising-Produkte, hat sie nach Ansicht des Landgerichts in die urheberrechtlichen Verwertungsrechte des klagenden Designers aus § 16 UrhG (Rechts zur Vervielfältigung) und § 17 UrhG (Verbreitung) rechtswidrig eingegriffen. Grundsätzlich schuldet Sie ihm daher nach § 97 Abs. 1 UrhG Beseitigung und Unterlassen dieser Rechtsverletzungen, sowie Schadensersatz (§ 92 Abs. 2 UrhG). Allerdings hat das Landgericht Hamburg die BVG mit Rücksicht auf die Berliner Bus- und Bahnfahrer nicht dazu verdonnert, alle bereits verbauten Sitze / Sitzbezüge aus ihren Zügen und Bussen zu entfernen und zum Zwecke der Vernichtung an den Kläger herauszugeben; dies wäre nach Ansicht des Landgerichts unverhältnismäßig i.S.v. § 98 Abs. 4 UrhG:
"Ob die Vernichtung unverhältnismäßig ist, lässt sich nur im Einzelfall und nur nach einer umfassenden Abwägung des Vernichtungsinteresses des Verletzten einerseits und des Erhaltungsinteresses des Verletzers andererseits entscheiden … Nach § 98 Abs. 4 S. 4 UrhG sind auch berechtigte Interessen Dritter zu berücksichtigen.
Zur Herausgabe der mit den Sitzbezügen versehenen Sitze aus den U-Bahnen und Bussen müssten diese entfernt werden. Ohne eine Einschränkung des Tenors (z.B. eine zeitliche Staffelung) würde dies zur Folge haben, dass jedenfalls bei Rechtskraft des Herausgabetenors (und ggf. schon im Rahmen der vorläufigen Vollstreckbarkeit bei Sicherheitsleistung) der öffentliche Nahverkehr in der Stadt Berlin ganz erheblich beeinträchtigt werden würde. Denn auf einen Schlag müssten in allen betroffenen Fahrzeugen die Sitze entfernt werden. Bis die Sitze durch andere Sitze mit einem anderen Muster ersetzt würden, wären die jeweiligen Fahrzeuge für den öffentlichen Nahverkehr nicht nutzbar. Insofern überwiegen gegenüber dem klägerischen Rechtsschutzinteressen eindeutig die Erhaltungsinteressen der Beklagten und der Berliner Öffentlichkeit.
Wie angedeutet, könnten im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mildere Maßnahmen (z.B. eine großzügige zeitliche Staffelung) zu erwägen sein. Ob und welche weniger einschneidenden Maßnahmen (Minus-Maßnahmen) vorliegend als verhältnismäßig anzusehen wären, kann und muss aber offenbleiben, weil eine solche Minus-Maßnahme nicht streitgegenständlich ist. § 98 Abs. 1 UrhG sieht derartige Minus-Maßnahmen nicht vor. Sie finden daher ihre Rechtsgrundlage im allgemeinen Beseitigungsanspruch gemäß § 97 Abs. 1 UrhG, müssten dann aber auch als konkrete Maßnahme jedenfalls hilfsweise beantragt werden …"